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19. Swiss Alpine Marathon Davos

K42 42.2km +1890m / - 1710m
31. Juli 2004

Natürlich ist irgendwie ein MANN schuld, dass ich dieses Jahr wieder nach Davos fahre. ;-) Euch verrate ich auch seinen Namen! Er heißt Beat. Dr. Beat Villiger und alljährlich Ende Juli eröffnet er für einen Tag eine "Freiluftpraxis" in exponierter Lage. Da muss ich hin, denn wo kriegt man sonst schon kostenlos die Beurteilung seiner Fitness durch den Schweizer Olympia-Chefarzt?

9:25 Uhr. Auf dem Bahnsteig 3 von Davos-Platz drängeln sich die Leute. Läufer und Läuferinnen, männliche und weibliche "Groupies", Kinder und Hunde, alle wollen Richtung Bergün, wo um 11:30 Uhr der Start zum K42 Marathon über die Keschhütte und den Scalettapass nach Davos ist.

Als der Zug einfährt, ist er schon voll. Ich strebe zügig zum 1. Klasse Abteil und meine Frechheit wird mit einem Sitzplatz belohnt. Ein Schaffner kommt nicht, er hätte auch keine Chance, so rappelvoll ist der Zug.

Die Fahrt mit der Rhätischen Bahn nach Bergün ist wunderschön. Hohe Berge links und rechts und zwischendurch tief unter uns die schäumenden Landwasser in der Zügner Schlucht. In Wiesen beklatschen wir die Läufer vom K78 und C42, die bereits um 8 Uhr in Davos gestartet sind und deren Strecke direkt an den Gleisen entlang führt. Langsam geht’s über das spektakuläre Wiesner Viadukt und der rote Zug bietet einen schönen Hintergrund für die hier wartenden Fotografen.

Mit reichlich Verspätung fahren wir in Bergün ein, doch noch sind es 45 Minuten bis zu Start. Angesichts des strahlenden Sommertags müssen kurze Tights und T-Shirt auch für den hochalpinen Bereich reichen. Ich gebe meine Jacke zum Rücktransport nach Davos ab und stelle mich für die verbleibende Zeit an die Strecke und beklatsche die durchlaufenden K78er.

René kommt vorbei und eine Weile später sein Kornwestheimer Freund Jochen Höschele, dann entdecke ich Ralf Klink von Laufreport und Carmen Hildebrand entdeckt mich. Kurz vor halb zwölf reiße ich mich los, da kommt sicher noch jemand, den ich kenne, aber mein eigener Start steht unmittelbar bevor.

Ich reihe mich ganz hinten ein, wir laufen eine 2 km Ehrenrunde um Bergün und biegen dann auf die Strecke des K78 ein. Wellig geht es stetig aufwärts, ich schone mich an den steileren Anstiegen und als ich nach 1:11 km 10 passiere, bin ich hoch zufrieden. Am Talschluss im Dörfchen Chants mit seinen schönen alten Bündner Häusern ist die Fahrstraße zu Ende, ab jetzt geht’s auf Waldwegen und Pfaden weiter. Und kurz darauf ist ganz schluss mit lustig, jetzt wird es richtig steil.

Na ja, denke ich, deshalb bin ich ja nach Davos gekommen, deshalb habe ich dieses Jahr den K42 gewählt. Dieses Jahr will ich ganz hinauf, über die Baumgrenze und noch weiter. Allerdings, die Steigung hört gar nicht mehr auf und sie ist richtig heftig. Meinen bewährten Stechschritt kann ich bald vergessen, ich werde langsamer und langsamer. Aber auch die um mich rum schweigen und schleichen. 800 Höhenmeter auf stark 5 km Strecke wollen bewältigt werden.

Mir fällt ein Läufer vor mir auf, auf den zwei andere von rechts und von links einreden. Plötzlich geht der in der Mitte in die Knie, die beiden packen ihn, denn er stürzt um wie gefällter Baum. Der Läufertross gerät ins Stocken, der gestürzte Läufer steht zwar schnell wieder und wird von Mitläufern mit Cola gepäppelt aber ganz klar wirkt er nicht. Wie war das in der Ausschreibung? "K78 und K42 stellen als mehrstündige Ausdauerleistung bis in eine Höhe von 2630 m ü. M. besondere Anforderungen an die Leistungsfähigkeit der Teilnehmer. Nur ein körperlich absolut gesunder und sehr gut trainierter Läufer kann diesen Voraussetzungen genügen."

2630 m über dem Meer, das ist die Keschhütte und sie wird nach einem Versorgungsposten, der mitten auf einer Wiese platziert ist, sichtbar.

Noch 350 Meter. 350 Höhenmeter!

Die Versorgungsposten kriegen ihr Wasser aus Brunnen und Bergbächen, das schmeckt immer wieder ein wenig anders und manchmal auch ein wenig seltsam. Da ich dem Natriumgehalt des Bergwassers nicht traue, schlucke ich immer wieder mal eine Salztablette dazu. Einerseits habe ich Durst, andererseits das Gefühl, mein Magen ist viel zu voll. So richtig wohl fühle ich mich nicht.

Noch vor der Keschhütte schwebt der Heli heran und setzt jemanden ab. Hoffentlich nur Presse, denke ich. Doch nein, ein Stück weiter liegt ein Läufer am Wegesrand, schon hält jemand einen Infusionsbeutel hoch. Diskreter Blick im vorbeigehen, kenn ich den? Ich kenne ihn nicht. Also weiter, irgendwie, mit enormen Pulswerten und im Schneckentempo.

Nach zwei Stunden und 42 Minuten ist die Keschhütte endlich erreicht. 1:31 für die letzten 5,8 km! Ich setze mich einen Moment und verschnaufe. Das Herz schlägt mir im wahrsten Sinne bis zum Hals, Puls fühlen an der Halsschlagader? Kein Problem. Ein Stück Banane, ein Becher Bouillon, in dieser Reihenfolge, dann geht’s erst mal abwärts.

Endlich kriege ich wieder genug Luft, doch es ist große Aufmerksamkeit angesagt, der unwegsame Pfad ist steil. Dazu bieten Steine und Murmeltierlöcher Stolperfallen. Weiter unten trennen sich die Wege, während die K78er auf dem Panoramatrail auf halber Höhe den Hang entlang auf und ab zackeln, geht es für uns K42er weiter hinunter bis zu Alp Funtauna. Auch hier lässt sich das Gefälle nicht wirklich in Geschwindigkeit umsetzen. Ich nehme die Zeit erst, als ich die Alp nach einer Pause wieder verlasse, stark Halbmarathon nach 3 Stunden 37. Hoch über uns die anderen auf dem Panoramatrail, hm, da müssen wir auch wieder rauf!

Zwar habe ich nach fünf Wochen, äh, power-tapering heute kein Zeitziel, will das Ganze lässig angehen, doch irgendwie hatte ich im Vorfeld gedacht, das müsste doch in 6 Stunden zu schaffen sein. Schien mir reichlich für einen Marathon. Hm, wenn das klappen soll, darf ich aber nicht allzu lange hinauf zum Scalettapass brauchen. Es sind auch nur 2,6 km von der Alp dorthin. Es sind aber auch 414 Höhenmeter! Und ich finde diese zweite knackige Steigung schlicht und einfach mörderisch. Saft- und kraftlos schleiche ich bergauf. Immer weiter, immer neue Kehren, immer wieder sehe ich weit, weit über mir andere Läufer.

Ich hänge die Hände ins herabplätschernde Bergwasser, ich wandere über rutschige Schneefelder. Ab und zu überholt jemand, ab und zu überhole ich einen, der am Wegesrand rastet. Im Rückblick erscheint mir der Rennsteiglauf wie ein Kindergarten-Ausflug. Ich bin mir sicher, einen härteren Wettkampf habe ich in meinem Läuferleben noch nicht bestritten. Endlich treffen wir die K78er wieder, doch wir sind immer noch nicht am Scalettapass. Noch ein Schneefeld, noch ne Kurve, dann endlich ER!

"Und?" fragt Dr. Villiger und schaut mich prüfend an. "Es ging mir nie besser als heute!" sage ich munter. Der Doc grinst, ich grinse auch, ein Händedruck, Test bestanden, ich bin entlassen.

Scalettapass, 2606 m, 4 Stunden 33 Minuten! Wiiie war das gleich mit den 6 Stunden? Ich kann froh sein, wenn ich unter 7 Stunden in Davos bin! Erst mal setze ich mich und trinke was. Sofort kommt ein Sanitäter heran. Ob alles OK sei? Ja, ja, sage ich, ich brauche nur eine kurze Pause. Noch ein Becher Bouillon, jetzt also noch 18,5 km bergab.

Gleich wird klar, warum die hier oben alle so kritisch sind. Es geht die nächsten 4 km verflixt steil abwärts mit Schneeflecken und matschigen Bächlein. Wer hier stolpert, weil er unaufmerksam oder übermüdet ist, tut sich richtig weh! Jeder Schritt will bedacht sein, leuchtend blauen Enzian und mit kupfergrünen Flechten bewachsene Felsbrocken nehme ich nur aus dem Augenwinkel wahr. Trotzdem tut es gut, endlich wieder bergab zu, ja was eigentlich? Gehen ist es nicht, laufen aber auch nicht. Ich eile. J

Ein aufgeblasener Coop-Bogen über dem Weg kündet den nächsten Verpflegungsposten an. Dürrboden. "Ach hallo, auch da?!" tönt es neben mir. Wie nett, es ist ein Läufer aus Speyer, mit dem ich in Freiburg 30 km lang zusammen gelaufen bin. Wir laufen ein Stück gemeinsam, dann lass ich ihn ziehen. Km 30, wo es bei anderen Marathons langsam zäh wird, wird es hier richtig locker. Der Weg ist jetzt ein breiter geschotterter Fahrweg mit gut laufbarem Gefälle.

Und ich lasse es laufen. Endlich! In Rin gibt’s obendrein Cola, jetzt hält mich nichts mehr. Ich laufe, so schnell ich eben laufen kann nach fünfeinhalb anstrengenden Stunden. Und sammle ein paar Leute ein, die mich vor einer halben Ewigkeit an den Steigungen überholt hatten. Dann schon der Ortseingang von Davos. Es geht nochmal einen steilen Stich in den Wald hoch. Gut, dass mir andere vorher davon erzählt hatten! Wieder leicht bergab durch den Wald, dann eine Straße in Davos entlang. Eben. Nicht enden wollend. Weit kann es nicht mehr sein. Aber ich kann nicht mehr und will nicht mehr. Eine Kurve. "Cinquecento metri!" ruft ein Zuschauer. Noch soo weit? Dann eine weitere Kurve, da vorne schon der Einlauf ins Stadion.

"Huhu, Ute! Lächeln!" ruft es. Jochen Höschele lauert mit der Kamera. Unter Applaus noch auf der Tartanbahn um die Kurve und dann, endlich, endlich, geschafft! 6 Stunden 41 Minuten und 39 Sekunden habe ich auf der Uhr. Ja, so eine kostenlose ärztliche Diagnose hat auch in der Schweiz ihren Preis! ;-)

 
  © 2005 · Ute Pfaff · Emailemail senden